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‘Nein!’ zum Nihilismus mit Noise und Nietzsche - Albumempfehlung ‘A Harmony of Loss Has Been Sung’ von Tunic

  • moritzhanfgarn
  • 29. Mai
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 1. Juli


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Mit dem Schrecken, der zugleich Bezauberung ist, mit der Aufregung, die einer Lähmung gleicht, mit der Überwältigung aller natürlichen und gewohnten Sinnesempfindungen tritt das Ungeheure plötzlich ins Dasein herein. Und in der höchsten Steigerung ist es, als wäre das wahnsinnige Getöse in Wirklichkeit die tiefste Stille. (…) Was ist der Grund der ungeheuren Erregung, der tiefen Versunkenheit? Was hat jener sinnverwirrende Lärm angekündigt? Die vertraute Welt, in der die Menschen sich so sicher und behaglich eingerichtet haben, sie ist nicht mehr! Das Tosen der Dionysischen Ankunft hat sie hinweggefegt. Alles ist verwandelt.


Walter F. Otto, Dionysos



Für meine Musikkritiken auf dieser Seite ist es unentbehrlich, ein paar wenige Begriffe einzuführen. Der Begriff des Dionysischen bei Nietzsche ist mindestens die existenzphilosophische Maxime, die ich an meine Musikrezeption anlegen möchte, und weiterhin eine wichtige Gegenposition zum neoliberalen Hedonismus. Nietzsche ist ohne Frage und aus guten Gründen ein eher unbeliebter Philosoph. Ich erinnere mich leider nicht mehr, welcher Philosoph das gesagt hat und reiche das nach, aber es gibt den wundervollen Satz, dass man für jede Position ein Nietzsche-Zitat finden könnte, das diese Position begründe. So argumentiert ist es wenig verwunderlich, dass sich sowohl der Nationalsozialismus, Marxist*innen, die New-Age-Bewegung oder die französische Postmoderne auf Nietzsche beziehen. In einem Gespräch mit einem sehr sachkundigen Marxisten, dass ich jüngst führte, wurde Nietzsche gar der Philosophen-Beruf abgesprochen - zu unsystematisch sei die Vorgehensweise. 

Ich möchte Nietzsche zumindest als Lebensphilosoph verteidigen, da ich einige seiner Positionen zeitgemäß und relevant finde. Obwohl er eigenartigerweise in einigen popkulturellen Zusammenhängen mit nihilistischer Philosophie in Verbindung gebracht wird, könnte man sein philosophisches Projekt als den Versuch der Überwindung des von ihm seiner Zeit diagnostizierten Nihilismus beschreiben. Das Christentum sei für die spirituellen Bedürfnisse des Menschen bereits unzureichend gewesen und an seine Stelle seien Moral und Wissenschaft gerückt, die Nietzsche einer Macht- und Genealogiekritik unterzieht. Das ist selbstverständlich ein linkes Verständnis seines Werks, wie bereits erwähnt ist diese Auslegung hinsichtlich der Quelltexte streitbar, bitte macht euch selbst ein Bild. 

Nietzsches Philosophie wird meines Erachtens dann wertvoll, wenn sie in der Sekundärliteratur einer Systematisierung unterzogen wird. Ich rahme diesen Post mit Zitaten des Religionswissenschaftlers Walter F. Otto, der eine großartige und sehr unterhaltsame historische Abhandlung namens Dionysos geschrieben hat, die genau diese Systematisierung des Dionysischen vornimmt. 

Nietzsches Philosophie hat die Ästhetik zum Massezentrum, "denn nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt." Hierfür zieht sich die Figur des Dionysos von Anfang bis Ende durch das gesamte philosophische Werk Nietzsches und er stellt ihn ins Zentrum der Überwindung der Lebensverneinung, die er seiner Zeit diagnostiziert:


“[... ] alles Werden und Wachsen, alles Zukunft-Verbürgende bedingt den Schmerz ... Damit es die ewige Lust des Schaffens giebt, damit der Wille zum Leben sich ewig selbst bejaht, muss es auch ewig die ‘Qual der Gebärerin’ geben ... Dies Alles bedeutet das Wort Dionysos.”


Die Figur Dionysos verkörpert die Schöpfung in der Zerstörung und die Zerstörung in der Schöpfung. Nicht die Nähe oder Gleichzeitigkeit von Kreation und Wahnsinn, sondern ihre gegenseitige notwendige Bedingung. Diese Notwendigkeit sei eine Wahrheit über die Welt, die sich im Wahnsinn des Dionysos ausdrückt, es ist die Gegensätzlichkeit des Lebens selbst, die Dionysos verkörpert. Ein Leben, das im Sinne der dionysischen Gleichzeitigkeit von Lebendigkeit und Leiden geführt ist, sagt weiterhin unweigerlich zu sich selbst Ja, da Leben und Leiden per se untrennbar miteinander verschränkt sind. Die Dramaturgie der Tragödie, die ihren Ursprung in den Festlichkeiten der Verehrung des Gottes Dionysos hat, ist als Erzählform für Nietzsche deshalb unverzichtbar, sie hilft dabei, das Leben nicht trotz, sondern ausschließlich in all seiner Abgründigkeit zu bejahen. Im Tragischen lerne der Mensch, das Leiden nicht zu akzeptieren, sondern zu transzendieren. Eine euphemistische Lebensphilosophie schmettert Nietzsche ab: „Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen.”



Diese Auffassung des Tragischen dient mir als Herleitung, um euch das Album A Harmony of Loss Has Been Sung von Tunic nahezulegen, und andersrum ist das Album ein großartiger Anlass, um dieses Konzept in meine Musikbesprechungen einzuführen. Auf A Harmony of Loss Has Been Sung verarbeitet Sänger David Schellenberg eine Fehlgeburt seiner Partnerin mit einer brachialen Ehrlichkeit, die gelinde gesagt verstört. Ich möchte auf die hier vertonte, unvorstellbar große Trauer gar nicht näher eingehen, meine eigene Sprache wäre hier unangebracht. Festzuhalten ist wie wahnsinnig ergreifend die Texte Schellenbergs sind, nie Empfundenes drängt sich hier zur Äußerung.

Genau im Lärm, im unaushaltbar lauten Krach sind die Stücke auf dem Album dionysisch. Nicht im karthartischen Sinne einer Selbsttherapie, einem Krieg gegen das Hässliche, sondern in der eigentlichen Gleichzeitigkeit von dimensionslosem Schmerz und feuriger Ekstase, die sich aus den formalen Gegebenheiten von Noise-Musik ergibt.

Das Album braucht etwa anderthalb Stücke, um richtig Fahrt aufzunehmen, dann entwickelt sich derjenige hypnotische Sog, mit dem seit dem Griechentum die Gegenwart des rasenden Gotts Dionysos beschrieben wird. Gewaltvoll brechen Gitarre und Schlagzeug wieder und wieder über uns zusammen, bodenlose Tiefen und himmellose Höhen. In dieser übersättigten Rohheit liegt ein Schöpferisches verborgen, dass man zu Schweben beginnen vermag - für Nietzsche ist die Musik selbst der metaphysische Ausdruck des Willens zum Leben, und diese Feuerwerk gewordene Musik und Trauer transzendiert die bloße Daseinsbewältigung mit ihrer rauschhaften Wucht.

 ‘Ja zum Leben’ sagt man in der Tragödie, und wer die menschliche Wirklichkeit als narrative Aneinanderreihung hedonistischer Glücksgefühle erzählt, der spricht über irgendwas anderes, aber nicht über das Leben. Nieder mit der Versöhnungskunst!

Zum Abschluss dieser Rezension möchte ich noch ein mal Walter F. Otto das Wort erteilen, denn wenn er über den Gott Dionysos schreibt, fühle zumindest ich mich an A Harmony of Loss Has Been Sung erinnert:


So sagt uns die Maske, dass die Erscheinung des Dionysos, die sich von der anderer Gottheiten durch ihre Sinnfälligkeit und Dringlichkeit unterscheidet, mit dem unendlichen Rätsel der Doppelheit und Widersprüchlichkeit verbunden ist. Sie stellt ihn gewaltsam, unausweichlich in die Gegenwart hinein, und entzieht ihn zu gleicher Zeit in das unsagbar Ferne. Sie erschüttert durch eine Nähe, die zugleich Entrücktheit ist. Die letzten Geheimnisse des Daseins und Nichtseins starren den Menschen mit ungeheuren Augen an. Dieser Geist der Doppeldeutigkeit, der den Dionysos und sein Reich schon in der Epiphanie von allem, was olympisch ist, unterscheidet, kehrt, wie wir sehen werden, in allen Formen seines Wirkens immer aufs neue wieder. Er ist der Grund der Berückung und der Verwirrung, die alles Dionysische hervorruft. Denn er ist der Geist eines wilden Wesens. Sein Kommen bringt die Raserei. 

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Der Begriff ‘dionysisch’ wird hier sicher öfter auftauchen, deswegen war es mir wichtig, ihn ein mal zu kontextualisieren. Ich habe mich bereits in meiner Abschlussarbeit recht ausgiebig mit Dionysos im Zusammenhang mit Sucht und Alkoholismus auseinandergesetzt und einige Passagen aus dem vorliegenden Text sind ich leicht angepasst aus dem schriftlichen Teil übernommen. Hört euch mein Abschlussstück also gerne hier an:





Ich vermute, dass einige meiner Leser*innen ‘lauteren’ Genres nicht besonders zugetan sind, und ich verstehe das, da viele dieser Genres bis heute unter einer spießbürgerlichen Stigmatisierung aus den 80er-Jahren leiden. Hoffentlich konnte ich mit diesem kleinen Text ein bisschen Werbung für Noise und Noise-Rock machen, ich halte beide Genres in ihrer Ästhetik für potentiell transgressiv. Noise-Rock-Alben schneiden bei mir jedenfalls immer gut ab, macht euch auf was gefasst. 


Wenn euch Tunic gefällt, checkt auch unbedingt folgende Projekte aus:


Sprain

Gilla Band

Duma & Lord Spikeheart

Chat Pile

Lingua Ignota

Uboa


Ich habe ein paar Ideen für nächste Blogeinträge, mal sehen, wann ich dazu komme. Bleibt am Ball, Moritz.  



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